PMO-Theaterkritik: Eine wilde Bande

flunker produktionen & Lehman und Wenzel: „Die Rote Zora“

Es hat sich einiges angestaut in den Kindern um die Rote Zora. Und jetzt muss die Wut raus. Der geldgierige Fischhändler Karaman, der korrupte Bürgermeister Ivekovic und die schnöseligen Gymnasiasten – sie alle haben längst eine Abreibung verdient. Die Bande kann sich nicht mehr zügeln: Alle, die sie ausgestoßen, gehänselt und ungerecht behandelt haben, beziehen eine gehörige Tracht Prügel. Die Kinder nehmen Rache und weil man ihnen selbst so oft Gewalt angetan hat, zahlen sie mit gleicher Münze heim.

Eine rauschhafte Klopperei ist das, wüst und wild, laut und lärmend. Den Feinden der Roten Zora wird nichts geschenkt und die Energie der Szene überträgt sich fast physisch in die Zuschauerreihen: Zunächst gönnt man den Fieslingen ein paar Schläge und Tritte, aber irgendwann scheint es genug und man möchte die Kinder bremsen in ihrer blinden Raserei. Doch im Spiel von Claudia Engel und Matthias Ludwig (flunker produktionen, Wahlsdorf) und von Samira und Stefan Wenzel (Lehmann und Wenzel, Leipzig) bricht sich ein ungestümer Zorn Bahn, der Versöhnung und Gnade (noch) nicht kennt.

Ein „Open Air-Figurentheater mit Live-Musik“ nennen die beiden Theater-Duos ihre Adaption des 1941 erschienenen Jugendromans von Kurt Held. Im Sommer wollen sie damit in Parks und auf Plätzen auf Tour gehen. Die Premiere aber findet im Westflügel Leipzig statt und obwohl der große Saal viel Raum bietet, scheint er mitunter zu klein für diese Aufführung, die im besten Sinne ein Spektakel ist. Die Geschichte der Roten Zora wird erzählt als rasche Szenenfolge energiegeladener Impressionen, die das Publikum auf eine atemlose Reise in eine ferne Küstenstadt schickt, in der elternlose Kinder sich selbst überlassen bleiben.

Viele dieser Szenen sind visuell so stark, dass man den Text eigentlich nicht bräuchte. Die Prozession mit einem einfachen Brettersarg zu Beginn versteht man allein durch den vielstimmigen Trauergesang der Sargträger. Und als wenig später die überlebensgroße Figur der Großmutter, mit qualmender Zigarette in der Hand und Papagei auf der Schulter, ihren nun elternlosen Enkel Branko zu sich ruft, weiß jeder, dass von dieser schrillen Dame nichts zu erwarten ist. Um zu überleben, muss Branko stehlen und wird alsbald von der Polizei verhaftet – nach einer jähen Verfolgungsjagd bis in die Zuschauerränge und in jeden Winkel des Saals.

Man kann sich leicht vorstellen, dass die einzelnen Episoden im öffentlichen Raum gut funktionieren. Stetig werden die Schauplätze neu konturiert, ins Zentrum rückt dabei ein großer, alter Marktwagen, der sich im Laufe der Geschichte fortwährend verwandelt. Immer neue Figuren treten auf, von kleinen Handpuppen über Respekt einflößende Großfiguren bis hin zu überdimensionalen Fabelwesen. Vor allem aber vermessen die vier Schauspielerinnen und Schauspieler den Raum mit vollem Körpereinsatz ständig neu. In dieser Inszenierung wird unentwegt gerannt und gesprungen, gepoltert und gerangelt, gerufen und geschrien. Hinzu kommt ein Soundtrack aus hämmernden Beats und schrillen Gitarrensounds. Zeit zum Ausruhen gibt es kaum: Nicht für die Akteure, nicht für das Publikum.

Ein paar leise Momente gibt es dennoch, wenngleich sehr selten. Einmal helfen die Kinder ihrem einzigen Freund, dem Fischer Gorian, beim Thunfischfang, ein anderes Mal sind Branko und Zora mit sich allein. Augenblicke der Nähe sind das, ein kurzes Verharren in scheinbarer Geborgenheit. Doch die vier Spielerinnen und Spieler verwehren ihren Figuren einfache Auswege aus ihrer harten Realität. Es bleibt ein trotziges Ringen um so etwas wie eine Zukunft. Erst als am Ende endlich die Einsicht um sich greift, dass „wir alle schuldig sind“, bekommen die Kinder ein neues Zuhause. Die beiden Duos machen daraus ein rasches, schnörkelloses Finale – ein süßliches Happy-End ist ihnen fremd.

Wenngleich sich flunker produktionen und Lehmann und Wenzel in ihrer Version der „Roten Zora“ viele Freiheiten gegenüber der Vorlage nehmen, bleibt doch der Kern der Geschichte wunderbar erhalten. Nach siebzig kraftvollen Minuten versteht jeder die Kinder, die bedingungslos zusammenhalten, weil sie sich behaupten müssen. Obwohl sie sich doch am sehnlichsten ein Zuhause wünschen. Dieses Stück wird im Sommer – wo auch immer – sein Publikum finden. Weil es nicht zu übersehen und schon gar nicht zu überhören ist. Vor allem aber, weil es einen nicht loslässt.

Klaus Grimberg
 
Spiel, Musik, Ausstattung: Claudia Engel, Matthias Ludwig, Samira Wenzel, Stefan Wenzel
Regie: Michael Vogel
Co-Regie: Janne Weirup
Produktionsleitung: Nina Stammer
Foto: Thilo Neubacher

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