Was die Puppe alles kann

  • Von Klaus Grimberg
  • Erschienen in Ausgabe Nr. 130 (2025/1)

Das ganze Spektrum des Figurentheaters: Die Aufführungen während der JHV in Bad Kreuznach

Kolleg:innen (wieder-)treffen, Neuigkeiten austauschen, Verbindungen knüpfen – viele nachhallende Begegnungen einer Jahreshauptversammlung spielen sich abseits der Tagesordnung ab. Das gilt insbesondere für die Aufführungen während der Tagung. In ihnen spiegelt sich die kreative Vielfalt der Szene und ihr schier unerschöpfliches Reservoir an spannenden Geschichten und darstellerischen Ausdrucksformen. Das Festival von Bad Kreuznach führte vor Augen, was sich mit Puppen und Figuren auf der Bühne so alles anstellen lässt – eine „Leistungsschau“ in sechs Akten:

Puppe kann Politik

Wie geht der Mensch mit der Schöpfung und mit den anderen Lebewesen auf unserem Planeten um? Und wie lässt sich unser Verhältnis zu den Tieren neu denken und definieren? Diese Fragen stehen im Zentrum des Stücks „Kreatura“ vom Theater Blaues Haus in Krefeld. Stella Jabben und Volker Schrills haben dafür erneut mit dem Autor und Regisseur Nils Voges zusammengearbeitet, der in dem Stück die Ergebnisse einer umfangreichen
Recherche- und Interviewarbeit mit Wissenschaftler:innen und Expert:innen zum Thema komprimiert. Entstanden ist ein Abend mit einer Informations- und Materialfülle, die den Zuschauer:innen ein Höchstmaß an Konzentration und Aufnahmefähigkeit abverlangt. Aus Interviewsequenzen mit seinen Gesprächspartner:innen hat Voges so etwas wie ein dokumentarisches Hörspiel montiert, das in verschiedenen Kapiteln die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Tier ausleuchtet. Das ist oftmals erhellend, bisweilen verstörend, manchmal anstrengend.

Stella Jabben und Volker Schrills bebildern den nahezu unaufhörlichen Informationsfluss mit einer szenischen Folge aus Figurenspiel und Videocollagen, um die sprachlichen durch visuelle Impulse zu ergänzen und zu erweitern. Manche dieser Bilder prägen sich stärker ein als die Statements auf der Tonspur, mitunter werden sie aber auch von der Textmenge erdrückt. So bleiben einzelne berührende Momente wie das übergroße Auge einer Echse in Erinnerung, in dessen Blick eine beunruhigende Tiefe zu liegen scheint. Manches Detail ist hingegen rasch vergessen. Dennoch wirkt „Kreatura“ nach als ein engagierter Appell, angesichts von Klimawandel und Artensterben das Miteinander sämtlicher Kreaturen auf der Erde aus einer Perspektive der Achtung und Gleichberechtigung zu verstehen und dringend danach zu handeln.

Puppe kann Minimalismus

Manchmal braucht es nicht mehr als einen kleinen Theaterhocker und ein paar zufällige Fundstücke: Ein Spielzeughäuschen, Steine vom Strand oder ein Puppenkästchen. Tristan Vogt von Thalias Kompagnons aus Nürnberg arrangiert für sein Stück „Daheim in der Welt“ die Utensilien auf der winzigen Spielfläche und fängt an zu erzählen. Seine Sätze sind kurz, prägnant und schnörkellos. Und doch entwickeln sich im Handumdrehen minimalistische Geschichten, in denen die Fundstücke die Hauptdarsteller sind. Die Dinge suchen auf dem Hocker ihren Platz und treten in Beziehung zueinander. Mal nähern sie sich an, mal grenzen sie sich ab, mal sind sie neugierig, mal verschlossen, mal suchen sie Freunde, mal wollen sie lieber für sich sein. Alles wie im richtigen Leben.

Deshalb kann jeder und jede diese Geschichten verstehen, Kindergartenkinder genauso wie deren Eltern oder Großeltern. Tristan Vogt ist ein Meister der Reduktion. Die Dialoge seiner Dinge bestehen meist nur aus ein, zwei Worten, außer seinen beiden Händen braucht es keine Bühnentechnik und die Requisiten sind oft nur Andeutungen, die sich in den Köpfen der Zuschauer:innen zusammenfügen. Kein Wort zu viel, kein Firlefanz. So entsteht auf der kleinen Fläche ein großer Raum für die eigene Phantasie.

Puppe kann Improvisation

Es ist nicht ganz klar, was da in der Mitte der Bühne liegt. Ein großer weißer Stein? Ein knautschiges Sitzkissen? Vielleicht auch ein straffes Stoffbündel? Plötzlich beginnt sich das rundliche Etwas zu bewegen. Und siehe da – es ist die sehr weite Hose einer Eisverkäuferin, die darunter hervorkriecht. Umgestülpt, angezogen, festgezurrt: Kann losgehen! Vanille, Schoko oder Himbeer? In der Waffel oder im Becher? Immer ran, immer ran, jeder
kommt dran. Wäre da nicht der unschlüssige Herr Moritz. Die große Auswahl verwirrt ihn, er kann sich einfach nicht entscheiden. Die Schlange hinter ihm wird währenddessen immer länger. Und ungeduldiger.

„Sonst Schoko – Eiskauf mit Schwierigkeiten“ nennt Adeline Rüss, Absolventin der HMDK Stuttgart, ihre Episoden von der Eistheke, in der ein kleiner Mann mit großem Eishunger zunächst seinen ganzen Mut zusammennehmen muss, um die wohlüberlegte Bestellung auszusprechen. Der Star der Inszenierung aber ist die dicke, rund Hose: Sie verwandelt sich von der Eistheke in eine Miniaturbühne und wieder zurück, während ihr Bauch als Requisitenfundus und Rückzugsort zugleich dient. Mit wenigen Handgriffen und unter Zuhilfenahme der Eistüten schafft Adeline Rüss immer neue Szenerien und Bilder – zum großen Vergnügen des Publikums. Originell, kurzweilig, humorvoll: Dieses Stück schmeckt wie ein großer Eisbecher mit Sahne im Hochsommer. Ach ja: Am Ende weiß sogar Herr Moritz, was er möchte. Ein Glück!

Puppe kann Radau

Räuberstücke sind keine Kaffeekränzchen. Schon gar nicht bei den Artisanen aus Berlin. In ihrer Adaption von „Ronja Räubertochter“ geht es laut und wild zu, die verfeindeten Banden von Mattis und Borka schenken sich nichts und auch im Mattiswald kann wegen der Rumpelwichte und Graugnome immer etwas passieren. Inga Schmidt und Stefan Spitzer entfachen auf den verschiedenen Schauplätzen ihrer geschickt ineinander verschachtelten
Bühne ein ungestümes und temporeiches Spektakel, das die Zuschauer:innen bannt und mitreißt. Räuber, Raufen, Radau – die Artisanen drehen bei diesem Dreiklang die Boxen ziemlich weit auf. Trotzdem klingt’s stimmig.

Denn zwischendurch glücken dem Duo auch wunderbar leise Momente, in denen Ronja und Birk sich entdecken und trotz der Rivalität der Väter Freunde werden und diese Freundschaft gegen alle Widerstände verteidigen. Mühelos gelingt den Artisanen der Wechsel zwischen atemlosem Trubel und ruhigem Innehalten. Richtig Zeit zum Verschnaufen bekommt das Publikum trotzdem nicht: Die Geschichte rauscht in einer guten Stunde
vorüber, in der es pausenlos etwas zu sehen und zu hören gibt – keine Chance auch nur für eine Sekunde Langeweile. In der gestrafften Version der Artisanen ist der Klassiker von Astrid Lindgren so lebendig und lebensfroh wie eh und je. Selbst die Räuberhauptmänner legen schließlich ihren Streit bei und über den gefährlichen Höllenschlund wird eine Brücke geschlagen. Es ist doch eigentlich ganz einfach…

Puppe kann Literatur

Es ist eine große dramaturgische Kunst, einen 300 Seiten starken Jugendroman in ein Solostück für eine Puppenspielerin zu verwandeln. Das Theater Koblenz hat genau das mit „Nennt mich nicht Ismael“, dem Erfolgsbuch des australischen Autors Michael Gerard Bauer, vollbracht. Aber wie? Indem die Hauptfigur zum Erzähler wird, dem ein raffinierter Kasten mit kleinen Figuren zur Seite gestellt wird. Dieser Kasten ist ein Tischler-Wunderwerk
der Wandelbarkeit, der sich auf- und zuklappen, vergrößern und verkleinern lässt und so ständig neue Szenenbilder preisgibt.

Zum Leben erweckt aber wird dieses Requisit erst durch Sophia Walter, 2024 Absolventin der Sparte Puppenspielkunst an der Hochschule Ernst Busch in Berlin. Mit ansteckender Energie erzählt sie Ismaels Geschichte, der im Debattierclub seiner Schule lernt, sich mit Worten und Argumenten in unangenehmen Situationen zur Wehr zu setzen. Blitzschnell springt Sophia Walter zwischen ihren Rollen als Ismael-Erzählerin und Puppenspielerin
hin und her, wobei die Erzählerin immer wieder die Geschehnisse des Puppenspiels kommentiert. Es entsteht eine rasante Abfolge von Szenen, in denen sich Perspektiven und Schauplätze permanent ändern. Sophia Walter meistert dabei nicht allein eine gigantische Textmenge mit Bravour, sondern
auch die unablässigen Rollenwechsel und den stetigen Umbau des Kastens. So gelingt ihr, ein ziemlich dickes Jugendbuch in ein beschwingtes Jugendstück von knapp einer Stunde zu übertragen, das den Ton der Vorlage sehr genau trifft.

Puppe kann Poesie

Weil kaum ein Stoff öfter verkitscht worden ist als „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry, nähert man sich jeder neuen Adaption der berühmten Erzählung mit ängstlichster Skepsis. In der Version des Figurentheaters Christiane Weidringer aus Erfurt aber werden düstere Vorahnungen im Nu hinweggewirbelt. Denn auf die Bühne tritt eine temperamentvolle Französin, die auf den Boulevards von Paris Schirme für alle Lebenslagen anbietet.
Regen oder Sonne, Sturm oder Schnee – Madame hat für jede Gelegenheit das passende Exemplar zur Hand und beschreibt die Vorzüge der Modelle mit Finesse und Esprit. Très charmante!

Wie nebenbei berichtet die Verkäuferin von der Begegnung mit einem Piloten, der ihr die Geschichte vom kleinen Prinzen anvertraute. Alsbald erzählt Madame von der phantastischen Reise des empfindsamen Helden und nutzt dazu ihren eigenen fabelhaften Kosmos, denn voilà – in jedem Schirm verbirgt sich ein neuer Planet. So fliegen die Abenteuer des kleinen Prinzen vorüber wie ein leichter Schauer an einem warmen Sommertag,
wobei jeder Anflug von Sentimentalität an den straff gespannten Schirmstoffen abperlt. Christiane Weidringers Madame ist eine Erzählerin par excellence, in ihren Humor mischt sie eine Prise Wehmut und in der Zuversicht ihrer Chansons schwingt ein Hauch Sehnsucht mit. Am Ende helfen ihr die Einsichten des kleinen Prinzen, ihre eigene Geschichte weiterzuerzählen und sich mit ihrem Fahrrad selbst auf den Weg zu machen, um – wer
weiß – den geheimnisvollen Piloten noch einmal zu treffen oder wen auch immer.

Im Publikum haben sich unterdessen anfängliche Zweifel längst in das Gegenteil verkehrt: Wer hätte gedacht, dass in den Erlebnissen des kleinen Prinzen noch so viel Poesie zu finden ist?

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