PMO-Theaterkritik: Zwei Jugendliche wollen ihren eigenen Weg gehen

Ambrella Figurentheater und theater rosenfisch: „Leonce und Lena“

Der König muss sich immer erst ein wenig eingrooven, ehe er in Schwung kommt. Drei-, vier-, fünfmal lässt er seinen runden Bauch im Netzgewand hoch- und runterwippen, dann hüpft er mit seiner Gummiball-Plauze auf die Bühne. Dort angelangt verschnauft Majestät ob dieser Anstrengung zunächst ein bisschen, bevor er seine mühseligen Regierungsgeschäfte fortführt: Die Hochzeit des Sohnes Leonce gilt es zu bestreiten – doch der Bräutigam hat keine Lust! Bei solch trüben Aussichten verflüchtigt sich die letzte Schwingung aus dem aufgeblasenen Körper und der König versinkt erneut in seine schwerfällige Schwermut. Was soll nur werden?

Sein Sohn frönt derweil dem Müßiggang. Genüsslich streckt er seine hölzernen Glieder auf dem Rand der Bühne aus und entwickelt eine beharrliche Ausdauer im Nichtstun. Was er mit sich anfangen soll, davon hat er keine Ahnung. Dennoch weiß er eines ganz genau: Was die Erwachsenen mit ihm vorhaben, dem gilt es zu misstrauen. Heiraten? König werden? Bloß nicht! Mit solcher Narretei will er nichts zu tun haben. Nur gut, dass er dem Lebenskünstler Valerio begegnet, noch so eine Gestalt zwischen Melancholie und Aberwitz. Mit ihm ergreift er die Flucht gen Italien – auf dem Griffbrett einer Laute schweben sie davon.

Georg Büchners Lustspiel „Leonce und Lena“ ist ein ironisches Aufbegehren gegen starre Konventionen und gediegene Selbstgefälligkeit seiner Zeit. Heike Klockmeier (Ambrella Figurentheater, Hamburg) und Stephan Wunsch (theater rosenfisch, Aachen) haben diesen Stoff in ihrer ersten gemeinsamen Produktion aus dem Kontext des frühen 19. Jahrhunderts gelöst, stark verschlankt und behutsam in eine zeitlose Gegenwart übertragen. Leonce und Lena werden so zu zwei sehr heutigen Jugendlichen, die vor den Ratschlägen und Zielen ihrer Eltern davonlaufen. Gewiss: Einen Plan haben die beiden nicht. Aber sie ahnen, dass „der Einzelne nur Schaum auf der Welle“ ist und die aufgeregte Geschäftigkeit der Erwachsenen nichts als ein Marionettenspiel, bei dem sie an unsichtbaren Fäden hin- und hergezogen werden. Nicht mit uns!

Heike Klockmeier und Stephan Wunsch lassen ihr Ensemble in einem kaum greifbaren Schwebezustand treiben. Dabei verlängern sich Gesten und Gemütszustände der Figuren in die Körper und Gesichter der beiden Spielenden, manchmal scheinen sie fast zu verschmelzen, dann wieder heben sie sich klar konturiert voneinander ab. Dieser unterschwellige Dialog zwischen den Marionetten und ihren Spielern macht einen zusätzlichen Reiz dieser Inszenierung aus. Zumal Klockmeier und Wunsch wunderbar miteinander harmonieren – in ihren Bewegungen und in ihren Stimmfarben, die sogar bei einigen Lieder traurig schön zusammenklingen.

So ist dieser Abend wie die Liebe der beiden Jugendlichen, die sich in ihrem Suchen finden: Er „verursacht idyllischte Empfindungen“, wie es im Text einmal heißt. Das gilt auch für die herrlichen Figuren von Jürgen Maaßen: Sein Hofmeister ist ein starr stolzierender Diener, aus dessen müden Augen die Vergeblichkeit allen Tuns spricht. Lenas Gouvernante wehrt sich mit klappernden Metallrock gegen die unausweichliche Vergänglichkeit, während der Vagabund Valerio dem Schicksal entgegenlacht und ihm die lange Nase zeigt. Leonce und Lena aber sind zwei wunderbar zarte, verletzliche junge Wesen, in deren feinen Züge sich das Leben noch nicht eingegraben hat.

Wie nebenbei wirft die Inszenierung auch einen Blick auf Büchner selbst und die Umstände, unter denen das Stück entstand. Diese Zwischenspiele fügen sich nahtlos in die Spielhandlung ein und erhellen anhand von Briefen und Dokumenten, wie sehr sich Büchner an seiner Zeit und ihrer biederen Behäbigkeit gerieben hat. Die Szenen werden misstrauisch beäugt von einem Geier, der das Spiel von einem Nebentisch verfolgt. Dieses enigmatische Wesen mit einem gewundenen Köper aus Stricken bleibt stumm, stößt lediglich mitunter einige markerschütternde Schreie aus. Fetzen der Briefe Büchners verschlingt er in seinem Schlund, aber satt scheint ihn das nicht zu machen. Der Raubvogel beobachtet und wartet. Worauf, das weiß man nicht wirklich. Man ahnt, dass auch Leonce und Lena irgendwann ihre Unschuld verlieren werden.

Zugleich hofft man, dass sie sich ihre Utopien bewahren – zumindest ein bisschen. „Von der Kunst, ein Narr zu sein“, heißt die Inszenierung im Untertitel. Wer diese Aufführung verlässt, denkt darüber nach, sich in dieser Kunst wieder etwas mehr zu üben.

Klaus Grimberg

Spiel: Heike Klockmeier & Stephan Wunsch
Regie: Dietmar Staskowiak
Figuren: Jürgen Maaßen, Stephan Wunsch
Bühne: Jürgen Maaßen
Musikbegleitung auf der Laute: Stephan Wunsch
Foto: Maren Winter

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